Es muss nicht perfekt sein, um wundervoll zu sein

„Als Coach musst du deine Themen und dein Leben im Griff haben, sonst bist du unglaubwürdig und niemand kauft bei dir“. Im Anschluss an diesem Satz bekommst du die „High Life“- Accounts gezeigt, die bei denen alles glänzt. Die Frauen sich gertenschlank auf Bali am Sandstrand rekeln, die Männer sind durchtrainiert, alle haben mehrere Millionen Euro auf ihren Bankkonten, niemand hat Sorgen und sie sprühen so voller Selbstliebe und Zufriedenheit. Solchen Menschen geht es nicht schlecht, nein, deshalb sollte man doch von diesen Leuten lernen, sich von denen begleiten lassen. Die haben es doch offensichtlich geschafft. „Da hast du noch einen langen Weg vor dir, also vielleicht solltest du lieber aufhören zu träumen und einfach wieder in dein altes Leben zurückgehen, das ist doch gut“. So sagte man mir vor einigen Monden.

Es stimmt, ich habe mein Leben nicht im Griff. Ich bin irgendwie normal und irgendwie dann doch nicht. Und manchmal fühlt sich mein Leben an, als wäre ich die letzte Versagerin. Im „Mein Haus, mein Auto, mein Pferd, meine Urlaubsfotos- Quartett“ würde ich haushoch verlieren. Eigentlich würde niemand mit mir spielen wollen, vergeudete Zeit ohne Gegner.
Ich habe mein Leben so wenig im Griff wie ich ein Flugzeug fliegen kann. Meine Mietwohnung ist chaotisch, in meinem Schrebergarten fliehen die Gartenzwerge, ich habe einen riesigen Krach mit meiner Ursprungsfamilie (erinnerst du dich an den Text zur Cyclebreakerin? Kam nicht gut an…), ich bin ständig pleite, habe hier und da noch Struggle mit meinem Körper, finde mich an manchen Tagen so hübsch wie Frankensteins Monster, ich werde für mein Auto ausgelacht (Story of my life übrigens, das geht mir seit dem Studium so aber ich liebs hart), habe aktuell keine instatauglich- vorzeigbare Traumbeziehung und im Sommerurlaub „reichte“ es gerade mal für Cuxhaven. Wie gesagt, ich bin keine Gegnerin beim Quartett.

Ich saß so gemütlich im Sonnenschein in meinem Strandkorb in Cuxhaven und ein älterer (ok, alter) Mann schielte aus seinem Korb zu mir rüber wie ich dort lag und las. Und er sagte „Man sieht Ihnen an, dass es Ihnen gut geht“ und ich wollte anfangen zu erzählen und ihm aufzuzeigen, was gerade alles so schlecht läuft in meinem Leben, aber die Worte kamen nicht aus meinem Mund und ich überlegte und stellte fest „Ja, Sie haben Recht, gerade geht es mir sehr gut“. Denn in diesem Moment war wirklich alles gut. Das Wetter passte, ich las ein gutes Buch, ich war entspannt und zufrieden mit dem wie es war. Und er lächelte nett und sagte „Ja, das sieht man Ihnen an, das ist so wunderschön“. Und ich freute mich wirklich darüber, denn es zeigte mir so sehr, dass nicht alles gut sein muss, damit es gut ist. Es muss nicht alles perfekt sein, damit es wundervoll ist.

Eigentlich ist diese Bewertung in „gut und schlecht“ sowieso eher menschengemacht. Es gibt die Geschichte von dem Bauern und dem Pferd, ich erzähle sie hier nicht, google sie gerne mal für dich. In der Geschichte geschehen dem Bauern in zeitlicher Reihenfolge mehrere Ereignisse und jedes Mal ist das Dorf dabei, es zu bewerten. Mal geschieht ihm ein Unglück, mal ein großes Glück. Und der Bauer antwortet stets „Vielleicht ist es Glück, vielleicht ist es Unglück.“
Wenn wir also die Bewertungen raus nehmen, bleiben wohl noch Gefühle übrig. Wir sind manchmal traurig, manchmal glücklich, wütend, zufrieden, liebend, ängstlich, und so weiter. Und all diese Gefühle gehören zu uns. Sie sind die puresten Reaktionen auf unser Umfeld (natürlich auch vom Unterbewusstsein gesteuert). Aber sie sind da. Sie bewerten nicht. Wir bewerten. Wir bewerten, dass Traurigkeit schlecht und Glücklich gut ist. Wir bewerten, dass (partnerschaftliche) Liebe perfekt ist, dass viel Geld erstrebenswert ist und dass ungeputzte Fenster ein Zeichen von Schludrigkeit sind. Wir haben gelernt, wie wir bewerten sollen und dass der höchste Grad an Perfektion das ultimative Ziel im Leben ist. Ja, wenn du das oben erwähnte Quartett gewinnst, dann „hast du es im Leben geschafft“, dann bist du die Heldin, dann bist du übrigens auch qualifiziert als Coach zu arbeiten.

An dieser Stelle möchte ich spoilern. Du kannst im Lebensquartett gewinnen und dennoch ein A*** sein, dennoch abends nicht schlafen können, dennoch Selbstzweifel haben. Du kannst Millionär und mächtig sein und dennoch menschlich leider den Zonk ziehen. Das ist alles möglich. Ich möchte nicht sagen, dass das immer so ist, ich möchte nur sagen, dass das, was wir vermeintlich als „perfekt“ klassifizieren, ganz oft, unter der Oberfläche des Offensichtlichen, eben auch Kratzer, Schrammen, Macken und Probleme hat.
Denn das Leben möchte nicht perfekt sein. Es möchte echt sein. Und vielleicht ist hier genau die größte Kunst des Lebens – die Perfektion in dem Moment zu finden und nicht in dem großen Offensichtlichen. Vielleicht geht es im Leben nicht darum, dass alle anderen Menschen dich beneiden und bewundern, dass sie behaupten, du hast es geschafft, dass du auf der Karriereleiter ganz oben stehst, dass du im Luxus lebst, dass deine Kinder die artigsten im Kindergarten sind, dass dein Nudelsalat der beliebteste ist, dass du all deine Aufgaben einfach mit links schaffst und noch nebenbei in ne 34/36 passt. Vielleicht geht es im Leben darum, dass jeder Moment, so wie er ist, wundervoll ist. Dass du wundervoll bist. Wild und laut lachend genauso wie mit verschmierter Mascara vom Weinen. Dass du zufrieden ins Bett gehst, auch wenn der Abwasch noch nicht gemacht ist. Dass du in den Spiegel schaust und die Falten und ersten grauen Härchen siehst (ist vielleicht gerade mein Thema) und dich gleichzeitig lieb dafür hast, dass du in diesem Augenblick, in diesem Wimpernschlag, genau dieser Mensch bist, mit diesem allem. Ohne gut oder schlecht. Ohne richtig und falsch. Ohne Bewertungen.

„Warum kanns nicht perfekt sein“ sang schon Bela B. auf dem Album „Jazz ist anders“. Und ich stand letztes Jahr im August auf dem Tempelhofer Feld, es war ein brüllend heißer Tag, erst recht in einer Stadt wie Berlin, ich stand 30 Minuten für 2 Becher Wasser an, es war emotional schon keine leichte Zeit für mich und dieses Lied war, ich glaube, das zweite Lied, das sie überhaupt gespielt haben. Und ich habe geheult. Ok, ich hab schon beim ersten Lied geheult „Nicht allein“ aber „Perfekt“ spiegelte so sehr meine damals schon existierende Situation wieder. „Und mir wird plötzlich klar, er war immer da, ich habs nur nicht gecheckt, denn ganz genau dieser Moment, ist perfekt.“

Vielleicht bin ich kein Coach der dir zeigen kann, wie du Millionärin wirst, wie du abnimmst oder wie du alle deine Themen lösen wirst. Und vielleicht möchte ich das auch gar nicht. Denn ich habe gelernt, dass das Leben nicht immer „im Happy End“ läuft. Klar, die Magie des Lebens wirkt, du kannst dir so vieles manifestieren, hab ich auch. Ich hatte alles. Aber ich war nie glücklich. Ich hatte Konfektionsgröße 36 und fühlte mich zu dick. Ich hatte eine 12jährige Beziehung und fühlte mich ungeliebt. Ich hatte schöne Familienfeiern und fühlte mich nie dazugehörig. Ich hatte diesen Job und war nie ausgefüllt damit. Ich verdiene wohl mehr Geld als so mancher und bin immer pleite. Ich habe in meiner Jugend jeden Jungen bekommen den ich wollte und fühlte mich nie gewollt. Hätte man mich von außen beobachtet, und das kriege ich so oft gesagt, hätte man gesagt, ich hätte alles. Aber ich war nie so wirklich glücklich.
Heute bin ich wundervoll. Nicht für das was ich habe. Sondern für die Frau die ich bin. Die Frau, die jetzt diesen Text schreibt, mit einem Glas Wein auf ihrem Balkon, abends um 22 Uhr. Die Frau, die ihre Gefühle benennt und hält, die Frau die gelernt hat, dass sie viel ist und wie wundervoll es ist, viel zu sein. Die Frau die durch die Wohnung tanzt und im Auto singt, die Frau die anderen peinlich ist, die immer noch in diesem Corsa fährt, die Frau voller Tattoos und selbst wenn es all das nicht gäbe, selbst, wenn ich all das, nicht mehr hätte oder wäre, wäre ich weiterhin wundervoll, weil ich ich bin. Ich habe keine Lust mehr, dieses Quartett zu spielen. Nicht, weil ich nicht gewinnen werde. Sondern weil es keinen Sinn hat. Denn es ist viel wichtiger, wie es sich dein Leben anfühlt, als wie es aussieht. Und magischerweise übrigens, wenn es sich wundervoll anfühlt, wird es auch wundervoller werden. Denn so läuft das Spiel des Lebens.

Ich wünsche mir, dass wir aufhören, perfekt zu sein. Ich wünsche mir, dass wir aufhören, andere Leute für ihre vermeintlichen Fehler und Makel zu kritisieren. Ich wünsche mir, dass wir alle wundervoll sind. In jedem Moment. Selbst dann, wenn wir uns gerade nicht wundervoll finden.
Es muss nicht perfekt sein um wundervoll zu sein.
Es muss nicht alles gut sein, damit alles gut ist.
Lass uns das Leben leben und fühlen und halten und wundervoll sein. Mit allem was da so kommen wird.

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